Balanceakt zwischen Höchstleistung und Ruhephasen

Wer sich von einer chronischen Migräne ausgebremst fühlt, wird schon etliches wissen und ausprobiert haben, um weniger intensiv oder/und häufiger deren Auswirkung zu erleben. Auch wenn es nur eine Ursache gibt, gibt es unterschiedliche Auslöser und Symptome, die sich selbst mit jedem Migräneerlebnis verändern können. Fakt ist: Migräne zu lindern ist ein machbarer Balanceakt zwischen Höchstleistungen und Ruhephasen.

Über chronische Schmerzen schreibe ich immer wieder. So habe ich u. a. in den 3 Blogartikeln zu den chronischen Schmerzen vieles aufgeführt, was auch bei einer chronischen Migräne relevant ist. In dieser neuen Artikel-Serie stelle ich weitere Aspekte, Mechanismen, Zusammenhänge und yogatherapeutische Impulse zur chronischen Migräne vor. Sie basieren auf den Erfahrungen mit Menschen, die ich begleiten durfte. Also Menschen deren Migräne zu oft/zu intensiv den Alltag einschränkten. Aber auch auf dem eigenen jahrzehntelangen Erleben und dem Weg aus der chronischen Migräne. Beginnen möchte ich mit einigen übergeordneten Aspekten.

Übergeordnete Aspekte

#Migränepersönlichkeit gibt es nicht

Falls nicht schon geschehen, ist es erst einmal hilfreich, sich von einem bestimmten Persönlichkeitstypus zu verabschieden. Es gibt keine Migränepersönlichkeit. Diese Sichtweise ist überholt, obwohl einige Verhaltensmerkmale und kognitive Besonderheiten sowie Begleiterkrankungen wie etwa die Depression oder Angsterkrankungen im Vergleich zu Menschen ohne Migräne häufiger auftreten können. Wenn Du mehr darüber wissen möchtest, dann empfehle ich Dir den lesenswerten Fachartikel im Thieme-Verlag: Die Migränepersönlichkeit.

#Priveleg

Abschließend erwähnt das Autorenteam dieses Artikels, dass es aus unterschiedlichen Gründen ein Privileg ist, Patienten mit Migräne zu behandeln. Diese Aussage wird im Text durch weitere Aussagen untermauert. Klingt sicherlich etwas seltsam, wenn Du selbst zu diesem Personenkreis gehört. Doch es führt auch dazu, dass Du aus der Schublade eines Non-Compliance-Patienten herauskommst, wo man noch allzu oft hineingesteckt wird und das trägt maßgeblich zur Linderung bei. Mit Non-Compliance wird die mangelnde Mitarbeit bzw. Kooperation bei einer Behandlung/Therapie bezeichnet.

Natürlich sind beide Einordnungen subjektiv, dennoch schwingt beim Begriff Non-Compliance oftmals der moralische Zeigefinger mit und dass das Versagen einer Therapie beim Erkrankten liegt. Beide Seiten haben Kompetenzen und Expertisenwissen zu dieser Erkrankung, die bedacht werden dürfen. Doch erst in der Zusammenarbeit auf Augenhöhe kann die notwendige Vertrauensbasis geschaffen werden. Hierzu ist es hilfreich, der/dem Therapeutin/Therapeuten eine Chance zu geben, das Vertrauen aufzubauen. Wenn Du Dich aufgehoben fühlst, entsteht unbewusst ein Gefühl der Sicherheit. Stellt sich das Gefühl nach ein paar Terminen nicht ein, suche weiter. Nur dann kann „heilsame“ Veränderung stattfinden.

#Wortwahl überdenken

Hast Du schon mal genauer über die Ansprachen und Formulierungen bei Migräne nachgedacht? Das Worte sowohl die Eigen- und Fremdwahrnehmung beeinflussen, ist bekannt. Sie können Türen öffnen oder auch schließen. Wer bspw. Worte wie Migräniker oder Migränikerin verwendet, setzt den Menschen mit der Erkrankung gleich und es tauchen oftmals bestimmte Bilder und Assoziationen auf. Es gibt auch andere Erkrankungen, wo wir Mensch und Erkrankung mit einem Substantiv betiteln. Erfreulicherweise gibt es weitaus mehr Erkrankungen, wo wir das Auseinanderdividieren wie bspw. bei Rückenschmerzen, Arthrose, Multiple Sklerose usw. Kurzum: Ich verwende hier bewusst Formulierungen wie Menschen mit Migräne oder er/sie hat Migräne.

Tipp: Wenn Du ein Mensch mit Migräne bist, kannst Du für Dich herausfinden, welche Formulierung passt:

  • „Ich habe Migräne.“
  • „Ich lebe mit Migräne.“
  • „Ich bin Migräniker/in.“
  • „Ich leide unter Migräne.“

Auch das Wort Migräneattacke habe ich aus meinem Sprachgebrauch gestrichen. Fühle mal hinein, was die Worte bei Dir auslösen und ja, für manche kann das unerheblich sein.

Ursachen und Mechanismen einordnen

#Überaktivität mit vorübergehender Entzündungsreaktion

Nun zur Ursache und weiteren Überlegungen: Der gegenwärtige Stand der Forschung ist, dass die Migräne höchstwahrscheinlich eine neurobiologisch genetisch bedingte Funktionsstörung des Gehirns ist, die zu einer Überaktivität von Nervenzellen und vorübergehenden Entzündungsreaktionen im Gehirn führt. Es ist eine Entzündung ohne einen externen Auslöser wie Bakterien. Sie erhöht die Schmerzempfindlichkeit und verursacht den Migränekopfschmerz. Bis zu 50 % kann eine erbliche Veranlagung bestehen.

Ausgelöst wird der Schmerz durch vielfältige Trigger wie etwa Schwankungen des Östrogenspiegels, Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, mentalen und körperlichen Stress, Auslassen einer Mahlzeit, unzureichende Flüssigkeitszufuhr, Atemdisbalancen oder Medikamente.

Migräne basiert also auf einer Fehlfunktion der schmerzregulierenden Systeme und unterschiedlichste und individuelle Reize/Auslöser könn(t)en dieses empfindliche System stören.

#Supergehirn auch ein Segen

Selbst während der symptomfreien Zeitspannen tickt dieses Gehirn anders: Es hat generell eine aktivere Reizverarbeitung und eine besondere Aufnahmefähigkeit. Es erbringt ständig Höchstleistungen. Offenbar werden die Reize früher und schneller verarbeitet.

Das Supergehirn mit der verkürzten Reaktionszeit und einer höheren Leistungsbereitschaft kann möglicherweise ein Segen sein, wenn bspw. im Job komplexere Problemstellungen gelöst werden sollen oder Kreativität gefragt ist. Vor der Migräne können Betroffene sehr kreativ und aktiv sein. Picasso ist ein berühmtes Beispiel dafür. Auch ohne jemals Berühmtheit zu erlangen :-), empfehle ich Dir, mal den Blick auf Deine Ressourcen zu lenken und wertzuschätzen. Vielleicht sind sie zu oft im Verborgenen und es würde Dir helfen, diese häufiger einzusetzen, ohne dabei die Ruhephasen außer Acht zu lassen.

Falls Du noch nicht die Podcastfolge 12 mit dem Ernährungs-Doc Dr. Matthias Riedl kennst, dann höre hier mal rein: „Warum Menschen mit Migräne Supergehirne haben.“

#Energie- und Sauerstoffbedarf

Eine Message von Dr. Matthias Riedl lautet: Je mehr Leistung von dem Gehirn verlangt wird, desto höher ist sein Energie- und Sauerstoffbedarf. Hochleistungsgehirne sind verstärkt auf eine ausgeglichene Energiezufuhr mit einem konstanten Blutzuckerverlauf sowie ausreichender Sauerstoff- und Flüssigkeitzufuhr angewiesen.

Bei langen Fastenzeiten, unregelmäßigen Essenszeiten, und/oder ungesundem Essen kommt es zu einem Energiedefizit des Hochleistungsgehirns. Länger anhaltend kann dies zu einem Zusammenbruch der Energieversorgung führen und mit die nächste Migräne auslösen. Eine Migräne am Morgen hängt möglicherweise mit einer zu geringen Energiezufuhr am Vorabend zusammen.

Energiedefizite lassen sich durch eine gesunde Nährstoffversorgung und mit 3 regelmäßigen Mahlzeiten – Frühstück, Mittag- und Abendessen – mit komplexeren Kohlenhydraten verringern. Kommt psychologischer Stress hinzu, steigt der Energiebedarf des Gehirns weiter an. In stressreichen Zeiten können gesunde Zwischenmahlzeiten notwendig sein.

Die erforderliche Sauerstoffzufuhr basiert auf einer gesunden Atmung. Somit ist eine freie und unbeschwerte Atmung ein weiterer Schlüsselfaktor.

Tipp: Wenn Deine Migräne abklingt, ist es hilfreich zu fühlen, wann der Appetit zurückkehrt, um den Energiehaushalt zeitnah wieder aufzufüllen.

Die Kunst des Ausruhens istein Teil der Kunst des Arbeitens.- John Steinbck

Perspektivenwechsel - Achtsamkeitsübungen

Lass uns nun mehr in die yogatherapeutischen Überlegungen eintauchen und beispielhafte Achtsamkeitsübungen anschauen, die dazu beitragen können, Höchstleistung und Ruhephasen häufiger auszubalancieren und damit die innere Stabilität fördern.

Die Ausgangslage: Wer über einen längeren Zeitraum immer wieder Migräneerfahrungen erlebt, lenkt die Aufmerksamkeit meist auf den Schmerz und die Schmerzgeschichte und fast alles andere gerät in den Hintergrund. Das liegt auch an der Verarbeitungsweise des Gehirns. Es kann kein Multitasking. Insbesondere dann, wenn Du täglich oder mehrmals die Woche Kopfschmerzen hast, sollte auch der Mehrwert eines Kopfschmerztagebuches infrage gestellt werden. Welches Ziel ließe sich zu diesem Zeitpunkt damit erreichen? Also statt zusätzlich den Schmerz zu dokumentieren, empfehle ich Achtsamkeitsübungen, die den Perspektivenwechsel fördern.

Der Effekt der Achtsamkeitsübungen entwickelt sich schleichend und neben der Einübungszeit braucht es regelmäßige Wiederholungen. Wähle Achtsamkeitsübungen aus, die aktuell zu Dir passen, sonst verläuft die Umsetzung im Sande. Bleibst Du dran, dann können sie langfristig eine Veränderung bewirken. Die nachfolgend aufgeführten Beispiele lassen sich auch in einen vollgepackten Tag integrieren.

# Wertschätzung für die kleinen Dinge

Das Schmerzerleben ist variabel und verändert sich trotz chronischer Schmerzen. Und somit gibt es auch immer Momente, in denen das Schmerzempfinden weniger stark ausgeprägt ist, Schönes erlebt wird, nette Gespräche stattfinden etc. Sie zu bemerken und wertzuschätzen kann zu stressreduzierenden Veränderungen im Nervensystem führen. Beispielweise kann die Aufmerksamkeit auf Stimmungen und Momente in denen Ruhe, Entspannung bzw. Leichtigkeit im Vordergrund stehen, gelenkt werden. Damit meine ich weniger spektakuläre Momente oder einen ganzen Tag, sondern (Mikro)Momente zu bemerken und wertzuschätzen, fü die Du dankbar bist. Hier ein paar Beispiele, zu denen Dir bestimmt, zumindest über die Zeit, viele weitere einfallen:

    • den Nebel, der sich am Morgen über die Landschaft legt und sie in ein besonderes Licht hüllt,
    • ein Musikstück oder das Vogelgezwitscher,
    • den Regen draußen rauschen hören und dabei den warmen, duftenden Kaffee/Tee genießen,
    • das Telefonat/Treffen mit einer Freundin,
    • einen lustigen Film, ein berührendes Buch…

# Praxis entstehen lassen

Auch eine morgendliche Praxis, die mit der Frage „Was brauche ich jetzt und hilft mir, den Tag zu meistern?“  beginnt, kann hilfreich sein. Durch das Hineinspüren und Abwarten, was kommt, wird Deine Praxis beeinflusst. Daraus darf je nach Bedürfnissen eine energetisierende oder beruhigende Praxis, nur das in der Stille Sitzen und sich dabei in eine Decke einkuscheln, ein entspannter Spaziergang uvm. entstehen. Anders ausgedrückt: Lass das entstehen, was im gegenwärtigen Moment machbar ist und Dir guttut ohne feste Vorgaben oder Verurteilungen. Eine solche Herangehensweise an die eigene Praxis kann die Selbstwirksamkeit und Selbstfürsorge fördern und die oftmals empfundene Hilflosigkeit reduzieren.

# Akzeptanz praktizieren

Wird Schmerz abgelehnt, gegen ihn gekämpft oder alles versucht, um ihn sofort unter Kontrolle zu haben, hat das vielleicht sogar den größten Einfluss auf das Leiden. Widerstand gegen den Schmerz potenziert das Leiden. Die Akzeptanz von dem, was im gegenwärtigen Moment ist, ohne den Schmerz lieben zu müssen, kann das Schmerzerleben verändern. Mit einer täglichen Achtsamkeitsübung von ca. 10 Minuten kann ein Abstand zum Schmerz hergestellt werden. Ziel dieser Praxis ist es, den Schmerz zu betrachten, ohne sich darin zu verlieren oder mit dem Schmerz zu identifizieren. Ich gebe dafür bei Bedarf auch eine Audioaufnahme mit nach Hause. Mit der Zeit gelingt die Übung auch ohne Audioaufnahme. Diese Übung ist sicherlich herausfordernd, wenn der Schmerz die Lebensqualität stark beeinflusst. Sie kann aber dazu beitragen, gelassener zu werden, Schmerz besser zu tolerieren und ihn zu lindern. Hier gibt es eine aktuelle Studie dazu, die die Wirksamkeit aufzeigt.

# Mentale Wechselatmung

Eine 20-minütige Atem- und Entspannungspraxis an mehreren Tagen in der Woche scheint lt. der Forschung ideal für Menschen mit Migräne zu sein. Doch auch kurze, über den Tag verteilte Atem- oder Entspannungsübungen können sich positiv auswirken. Eine Anregung hierzu findest Du mit Bild und kurzen Anweisungen in meinem Artikel zum Thema Diabetes. Diese mentale Wechselatmung ist eine sanfte und für die meisten entspannende Atemübung. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Atmung und den ganzen Körper.

Das Erspüren bzw. Erfahren des ganzen Körpers und der Atmung ist bekanntlich die Basis, um den eigenen Bedürfnissen sowie Fähigkeiten wieder bewusst(er) zu werden und die innere Verbindung wieder zu vertiefen. Und das kann mit dazu beitragen, das Misstrauen sich selbst und anderen gegenüber, welches sich häufiger über die Zeit entwickelt, abzubauen. Weitere Anregungen findest Du auch in den Artikeln zur Wahrnehmung und dem bewussten Spüren.

Kurzum:


     
    • Eleminiere den Begriff Migränepersönlichkeit, falls nicht schon geschehen.
    • Finde Formulierungen, die Dir mehr Spielraum geben wie etwa "Ich lebe mit Migräne".
    • Lenke den Blick auch auf die Ressourcen Deines Hochleistungsgehirn.
    • Denke an den Energiebedarf: 3 regelmäßige Mahlzeiten, ggf. zusätzlich gesunde Snacks
    • Fülle den Energiehaushalt nach einer Migräne zeitnah, wenn der Appetit zurückkehrt, wieder auf.
    • Integriere für den Perspektivenwechsel regelmäßig und über den Tag verteilt Achtsamkeitsübungen.
    • Stelle bei kaum schmerzfreien Zeiten, den Mehrwert eines Schmerztagebuchs in Frage.
    • Fördere eine freie und unbeschwerte Atmung.
    • Versuche 20-minütige Atem- und Entspannungspraxen an mehreren Tagen in der Woche einzubinden. Das scheint lt. der Forschung ideal für Menschen mit Migräne zu sein.

Lese im Folgeartikel mehr über die Reizverarbeitung und wie Yoga noch zur Linderung beitragen kann