Im vorangegangenen Artikel habe ich den aktuellen Stand der Forschung zur Ursache kurz erklärt und Achtsamkeitsübungen für den Perspektivenwechsel vorgestellt. Heute stelle ich Ideen für eine 15-minütige Yogapraxis vor. Doch zunächst schauen wir noch mal auf die Reizverarbeitung, Reizüberflutung und was typisch für die ständige Hochspannung im Nervensystem ist. Mit diesem Einstieg wird es verständlich(er), warum Yoga eine wirksame Ergänzung für Menschen mit Migräne ist, um die Reizüberflutung zu minimieren. Übrigens können sich lt. einer Studie die Beeinträchtigungen schon reduzieren, wenn Du die Zusammenhänge und Auswirkungen der Erkrankung verstehst und einordnen kannst.

Reizverarbeitung

Das Gehirn erhält permanent Informationen, also Reize aus dem Äußeren und Inneren. Sinneseindrücke, Gedanken, Emotionen, Muskelbewegungen, Herzschlag, Blutdruck, Atmung, Darmaktivitäten etc. alles hat es aufgrund von Reizen im Blick. In jeder Millisekunde erreichen Millionen von Reizen Dein Gehirn. Daraus resultieren Reaktionen, die wieder Deine Atmung, Bewegungen, Emotionen, Gedanken usw. beeinflussen. Die meisten laufen unbewusst ab.

Reizüberflutung

Das hochleistungsfähige Gehirn reagiert auf diese Reize sensitiver als ein „normales“ Gehirn. Es denkt schneller, empfindet intensiver und nimmt ständig wahr. Letztendlich kommt es zur Reizüberflutung und der Migräne, wenn in der Summe sich zu viel, zu schnell oder plötzlich verändert. Auf der Zeitschiene kann dies nach einigen Wochen oder innerhalb kürzester Zeit erreicht sein. Wenn Du mehr über den aktuellen Stand der Ursache erfahren möchtest, empfehle ich Dir den Artikel „Die Ursachen der Migräne – die wichtigsten Theorien“ zu lesen.

Typisch:schneller - intensiver - immer

Schneller

Typischerweise ist das Gehirn kognitiv oft auf der Überholspur. Es kann schneller denken und rasch Zusammenhänge verstehen. Das liegt auch daran, dass es sich an (zu) viel erinnern kann und (zu) viel vorausdenkt. Und das sich Sorgen machen, fällt ihm auch leicht.

Intensiver

Intensiver heißt, Du empfindest tiefer: Du freust Dich mehr, Du bist verliebter, Du ärgerst Dich mehr, Du bist wütender usw. Vielleicht erlebst Du auch öfter Schwankungen von Himmel hoch jauchzend zu Tode betrübt.

Immer

Und das pausenlose Wahrnehmen hängt u. a. damit zusammen, dass selbst alltägliche wiederkehrende Reize den ganzen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozess in Gang halten. „Normale“ Gehirne gewöhnen sich an solche Reize und dadurch wird das Nervensystem weniger beansprucht – zumindest meistens. Um sich das vorzustellen, bringe ich gerne den Vergleich mit den Laubbläsern, die in einer Tour lärmen und nerven – also wiederkehrende Reize. Wer kann sich daran gewöhnen? Mir ist noch keiner über den Weg gelaufen. Bei Menschen mit Migräne bleibt der Gewöhnungseffekt auch bei normalen Reizen aus.

Hier in dem Artikel von der Schmerzklinik Kiel findest Du auch ein Video dazu.

Reize reduzieren -Reizüberflutung minimieren

Wann immer Reize minimiert werden können, wird das Gehirn entlastet und die Anfallshäufigkeit, Intensität oder/und Dauer der Migräne kann zumindest reduziert werden. Die Frage ist also, welche Yogaimpulse können Dir dabei helfen, öfter und rechtzeitiger zu entspannen und häufiger im gegenwärtigen Moment zu verweilen. Welche es auch sein mögen, wirksam werden sie erst, wenn  Du sie regelmäßig in den schmerzfrei(er)en Zeiten in den Deinen Alltag einbindest.

Meister im Abschweifen, Strafzettel ausstellen und Vermeiden von Entspannung

Zunächst ist es oft hilfreich, wenn Du Dir bewusst machst, dass Dein Verstand ein wahrer Meister im Abschweifen, Strafzettel ausstellen und Vermeiden von Entspannung ist. Der Geist wird Dich vermutlich voll blubbern mit Glaubenssätzen: „Was soll das bringen.“ – „Das schaffe ich nicht.“ – „Das funktioniert sowieso nicht.“- „Das kann ich nicht“ – „Ich muss erst einmal.“  – „Schau mal auf Deine To-do-Liste!“

Das ist normal. Lass ihn im Hintergrund plappern. Reflektiere, wenn der Geist lauter wird bzw. wieder auf Wanderschaft geht. Hole ihn mit einer wohlwollenden Einladung zurück zum gegenwärtigen Moment, zum Atem und Körper. Zu Beginn des Yogaweges oder in besonders reizintensiven Phasen ist das meist herausfordernd. Es braucht Übung und an manchen Tagen mehr Disziplin und Geduld und an manchen gelingt es nicht. Auch das ist normal und darf so sein.

Vielleicht hilft es Dir, dem Verstand zu sagen: „Ich habe keine Ahnung, ich lerne es jetzt.“ oder „Ich bin neugierig auf das, was sich entwickelt.“

Übergeordnetes für die Yogapraxis

Solange Dein Kopfkino oft anspringt und der Verstand die Kontrolle behalten möchte, ist das längere Verweilen in der Stille oder das Meditieren eine zu große Herausforderung. Hier kann es hilfreicher sein, zunächst wenige Minuten über den Tag verteilt inne zu halten. Den meisten fällt es anfangs leichter über den Körper, die Atmung und der Wahrnehmung, was im Moment entsteht, zur Ruhe zu kommen. Wie bereits so oft in meinem Blog erwähnt, ist eine 15-minütige Praxis mit wenigen Asanas, die regelmäßig geübt wird, pragmatisch und wirksam – auch bei chronischer Migräne.

Unabhängig davon, welche Elemente in Deine Yogapraxis fließen, geht es im Yoga nicht darum, eine Praxis abzuarbeiten, zu machen und zu wiederholen, sondern um eine achtsame Praxis. Also wach(er) sein und mitbekommen was läuft.  Achtsamkeit ist der Schlüssel für Veränderung und Stressreduktion.

Weitere Tipps:

  • Gehe mit einer offenen, neugierigen und spielerischen Haltung heran. Gehe auf Entdeckungsreise: Erspüre und erforsche und ändere ggf. ab, wenn es sich weniger gut anfühlt.
  • Integriere sanfte, einfache Atemübungen, um den Stresspegel zu reduzieren. Komplizierte und fordernde Pranayama Techniken sind kontraindiziert.
  • Synchronisiere Atmung und Körperbewegung und nimm das Zusammenspiel des Atems und der Bewegung wahr.
  • Versuche das Innehalten vor der nächsten Asana oder Wiederholung zu etablieren. Anders ausgedrückt: Vermeide es, eine Bewegung zu beenden, indem Du direkt die nächste folgen lässt.
  • Spüre während des Übens in den Körper hinein und nimm Veränderungen wahr, die mit der Bewegung und der Atmung einhergehen - dann wird der Verstand gleich schon  leiser :-).
  • Weniger ist mehr und wirksam: Übe einfache und erreichbare Haltungen, blende Leistungsdenken und bestimmte Annahmen aus. Vermeide Grenzen auszuloten, Schmerzen auszulösen oder zu verstärken.
  • Statt viele unterschiedliche Asanas, führe sie langsamer aus und wiederhole sie einige Male.
  • Fördere die innere als auch äußere Stabilität durch erdende und stabilisiernde Asanas.
  • Tauchen Unruhe oder Unwohlsein auf, versuche diese Empfindungen auch mit der offenen Neugier zu beobachten und anzunehmen bzw. die Haltung/Bewegung an Deine Bedürfnisse anzupassen.

Präsent zu sein in dem,was sich von Moment zu Moment entfaltet,ist achtsames Yoga.

Birgit Lenarz

Körper-gewahr-sein: Die innere Welt ausbalancieren

Sorgen, Ängste, Schmerzen tragen dazu bei, dass Du weniger Körpersignale und eigene Bedürfnisse auch während der migränefreien Zeit wahrnehmen kannst. Es entwickelt sich oft unbewusst eine Distanz zum Körper-gewahr-sein und das befeuert wiederum das Kopfkino und beeinträchtigt die Emotionsregulierung. Sorgen und Ängste bleiben präsenter oder werden weiter verstärkt und körperliches sowie psychisches Unbehagen nehmen weiter zu.

Wer den Körper vom Kopf bis zu den Füßen bewusster wahrnimmt, kann seine Eigenwahrnehmung fördern und damit die innere Welt besser ausbalancieren. Denn dann fällt es Dir leichter, die Körpervorgänge wahrzunehmen, die auf eine Belastungssituation und drohende Reizüberflutung hinweisen. Folglich kannst Du rechtzeitiger Schritte zur Stressreduktion einleiten.

Hier können haptische Übungen eine wertvolle Ergänzung sein: Du kannst mit der Hand Körperbereiche berühren und ausstreichen wie etwa Deine Hände auf den Herzraum oder Bauch legen, die Füße liebevoll massieren, einzelne Körperbereiche oder den ganzen Körper sanft ausstreichen oder abklopfen.

Für manche ist der BodyScan eine Option. Bei dieser Übung lenkst Du Deine Aufmerksamkeit systematisch durch den Körper und spürst in die einzelnen Körperpartien hinein. Zum Abschluss wird das Gesamtkörpergefühl wahrgenommen.

Verspanunngen -typische Begleiterscheinungen

Insgesamt nehmen muskuläre Verspannungen stressbedingt zu und sie sind häufige Begleiterscheinungen bei Menschen mit Migräne. Viele kennen Nackenschmerzen als Folge der Migräne und andererseits können sie wiederum zu den Auslösern gehören. Belastende Situationen, die ängstliche Erwartung vor den Schmerzen, die Sorgen und damit ein nicht enden wollender innerer Dialog oder angestaute Wutgefühle tragen dazu bei.

Insbesondere das Hochziehen der Schultern ist ein typischer Mechanismus bei Stress. Sie werden unwillkürlich hochgezogen bzw. noch höher gezogen, als sie gewohnheitsmäßig durch äußerliche Faktoren gehalten werden. Somit ist es wenig verwunderlich, dass die Muskeln im Schulter-Nackenbereich meist dauerhaft falsch belastet werden und zu Muskeldisbalancen führen.

Außerdem können die verspannten Muskeln im Halsbereich Hirnnerven und gehirnversorgende Blutgefäße, die in der Halsregion liegen, einengen bzw. reizen. Dort verläuft auch der Vagusnerv, ein ganz wichtiger Nerv für unser Befinden. Er reguliert Deinen Stresspegel herunter und sorgt für Ruhe und Erholung. Ihn durch eine aufrechte Haltung und entspannende Übungen zu unterstützen, trägt wesentlich zum Wohlbefinden von Körper, Geist und Seele bei.

Verspannungen reduzieren

Übungen, die zu einer Entspannung im Schulter-Nackenbereich beitragen, gehören definitiv mit ins Yogaprogramm. Einige Ideen hatte ich bereits in meinem Artikel Yoga gegen verspannten Handy-Nacken aufgeführt. Zusätzlich sollten Asanas vermieden werden, die Druck auf diesen Bereich ausüben oder ihn stauchen.

Mein Credo lautet: Der Nacken erstreckt sich vom Kopf bis zu den Füßen, denn über die Faszien ist alles miteinander verbunden. So führen bspw. verspannte Augenmuskeln auch zu körperlichen Schmerzen und umgekehrt. Hier können diverse Augenbewegungen Linderung verschaffen. Oder mögliche Verspannungen des mächtigen Lenden-Darmbeinmuskels können sich schmerzhaft auf den ganzen Körper auswirken, sodass bspw. sanfte Lockerungsübungen für die Beckenregion eine wohltuende Ergänzung sind, auch um Nackenverspannungen zu lösen.

Wechsel zwischen An- und Entspannung

Generell brauchen Muskeln den Wechsel zwischen An- und Entspannung. Das verbessert ihre Durchblutung und Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen bzw. sie können wiederum wichtige Heilstoffe (Myokine) für den ganzen Stoffwechsel bereitstellen. Kommt dieser Effekt zu kurz, kann das genauso wie psychischer Stress Verspannungen begünstigen oder verstärken. Somit ist ein weiterer wichtiger Baustein, dass dynamische Üben und das längere Halten in den Asanas solltest Du vermeiden.

Dass durch willentliche und bewusste An- und Entspannung bestimmter Muskelgruppen ein Zustand tiefer Entspannung des ganzen Körpers erreicht wird, zeigt die sogenannte Progressive Muskelrelaxation, kurz PMR. Sie ist eine bewährte und durch Studien nachweislich belegte Methode für Menschen mit Migräne. Dazu gibt es viele kostenlose Anleitungen im Netz.

Kurzum:


     
    • Dein Geist liebt es auf Wanderschaft zu gehen und dazwischen zu funken. Lass ihn im Hintergrund plappern.
    • Anfangs ist es förderlicher kürzer in der Stille zu verweilen und zunächst mit einer ganz sanften Yogapraxis über den Körper, die Atmung und der Wahrnehmung zur Ruhe zu kommen.
    • Praktiziere regelmäßig für 15-Minuten mit wenigen Asanas und achtsam - siehe Tipps weiter oben.
    • Verbessere das Körper-gewahr-sein: Lenke Deine Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Körperregionen. Hilfreich sind auch haptische Übungen und der BodyScan.
    • Übe dynamisch und nimm Übungen, die zu einer Reduzierung der typischen körperlichen Verspannungen beitragen, mit in Dein Yogaprogramm auf. 

Demnächst mehr

So weit für heute und danke fürs Lesen :-).